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1. Einführung: Rückbesinnung auf das Wesentliche
Fastenwandern ist eigentlich nichts Außergewöhnliches, sondern etwas ganz Natürliches.
Fasten und Wandern sind beides Fähigkeiten, mit denen die Evolution uns Menschen ausgestattet
hat. Als unsere Vorfahren, die Jäger und Sammler waren, noch wandernd durch die Lande zogen,
bestimmten die klimatischen Verhältnisse das Nahrungsangebot. Je weiter der Lebensraum der
frühen Menschen vom Äquator entfernt war, um so stärker waren sie jahreszeitlichen
Temperaturschwankungen ausgesetzt, die das Wachstum von Pflanzen und das Verhalten von
Tieren bestimmen. Im Winter wachsen keine Beeren und viele Tiere halten Winterschlaf.
So wanderte der Mensch oft tagelang, ohne geeignete Nahrung zu finden. Er überlebte diese
Notzeiten dank der Fähigkeit zum Fasten; ein genetisches Programm, das den Nährstoffbedarf
für eine begrenzte Zeit aus körpereigenen Reserven deckt. In Zeiten des Überflusses, in denen
wir heute leben, erscheint uns diese biologische Fähigkeit nutzlos. Wir brauchen sie nicht zum
Überleben. Doch der Wohlstand und das Zuviel des "Guten" bringen lebensbedrohliche Risiken mit sich.
Übergewicht und Fettleibigkeit sind die Folgen und der Nährboden für Diabetes und Arterienverkalkung.
Bei Diabetes drohen Amputation, Erblindung und Nierenversagen; bei Arterienverkalkung Herzinfarkt und
Schlaganfall. Und es gibt kein genetisches Programm, das hier regulierend eingreift.
Leben ist nur möglich in evolutionär vorgegebenen Toleranzbereichen. Betrachten wir zum Beispiel das Blut:
Es darf nicht zu warm sein (Fieber) und nicht zu kalt (Erfrieren), nicht zu sauer (Azidose) und nicht zu süß
(Diabetes), um nur einige Parameter zu nennen. Nähern wir uns den Grenzen dieser Toleranzbereiche, begeben wir
uns in Lebensgefahr und körpereigene Regulationsmechanismen setzen ein, um Abweichungen zumindest vorrübergehend
auszugleichen und das System in den Normbereich zurückzuführen. Bei einer drohenden Übersäuerung des Blutes
beispielsweise wird die Ausscheidung von Säuren über Urin, Stuhlgang und Schweiß erhöht. Ferner werden Mineralien
aus den Knochen mobilisiert, um die Säuren zu neutralisieren.
Auch der Fastenstoffwechsel ist solch ein Mechanismus, der anspringt, wenn dem Körper von außen keine Nahrung mehr
zugeführt wird. Jedoch können
Regulationsmechanismen von der Norm abweichende Zustände immer nur eine Weile abpuffern. Denn auch sie unterliegen
biologischen Grenzen. Bei meinem Beispiel der Blutübersäuerung sind dies unter anderem die begrenzte
Ausscheidungskapazität der Nieren und die begrenzten Mineralienreserven in den Knochen.
Stellt man eine solche Notsituation in einen anderen Kontext und betrachtet sie aus einem anderen Blickwinkel,
dann kann man die Situation umdeuten. So kann man Fasten betrachten als eine dem Körper angeborene Fähigkeit,
mit einer Notsituation intelligent umzugehen. Diese Fähigkeit zum Verzicht lässt sich mithilfe von Übungen
auch auf unsere Gedanken und Gefühle übertragen. Schon die griechische und römische Antike sowie viele Religionen
(unter anderem Christentum, Judentum, Islam und Hinduismus) sahen und sehen einen Wert darin, die Fähigkeit zum
Verzicht bewusst einzuüben. Darum haben viele Religionen die Askese in ihre Praktiken und Rituale eingebunden.
Die Ziele der Verzichtsübungen variieren und sind sehr vielfältig: Charakterbildung und Selbsterziehung
(Triebbeherrschung und Willensstärkung), Bußetun und Opferbringen, Durchlässigerwerden für das Göttliche
Sein und höchste spirituelle Ziele, wie das Einswerden mit Gott und die Erfahrung göttlicher transzendentaler
Realität.
Die Askese kennt viele Formen des Verzichts, auch in der Art der Ausführung. In der Regel bezieht sie sich auf
Grundbedürfnisse des Körpers und der Psyche, wie den Verzicht auf Nahrung (Fasten), den Verzicht auf Sexualität
(Enthaltsamkeit) oder den Verzicht auf Kommunikation (Schweigen). Der Askese stehen Sinnlichkeit und Genuss
gegenüber, die ebenfalls zu einem erfüllten Leben gehören. Jedoch alles zu seiner Zeit: "Wenn Rebhuhn, dann
Rebhuhn, wenn Fasten, dann Fasten", so hat es die Mystikerin Theresa von Ávila (1515-1582) ausgedrückt.
Das rechte Maß wäre dann der goldene Mittelweg, ein Weg der Mitte, wie er im Buddhismus anstrebt wird.
Doch was tun, wenn man den Weg der Mitte verloren hat, von ihm abgekommen ist und irgendwo rechts oder
links der Mitte festsitzt? Eine erfolgreiche Strategie um ein verlorenes Gleichgewicht wiederherzustellen
ist das Prinzip "Gegensätzliches mit Gegensätzlichem zu heilen" (contraria contrariis). Allerdings bedarf
es der klugen Lenkung und Führung, um nicht von einem Extrem ins andere zu fallen. Wenn mir kalt ist, wärme
ich mich in der Sonne; ziehe mich jedoch rechtzeitig zurück, um mir nicht einen Sonnenbrand zu holen. Fasten
als Therapie versteht sich als eine contraria contrariis Maßnahme, die sich insbesondere in der Naturheilkunde
zur Linderung der Nöte einer Überfluss- und Wohlstandsgesellschaft etabliert hat. Fasten als Naturheilverfahren
gilt als Operation ohne Messer und es sind dafür keine teuren Medikamente und keine aufwendigen Apparate nötig.
Kommt noch das Wandern hinzu, hat man eine optimale Kombination. Man wirkt nicht nur der Maßlosigkeit beim Essen,
sondern auch der Bewegungsfaulheit mitsamt ihren uns krankmachenden Folgen entgegen.
Wandern bietet einen natürlichen Ausgleich für die Bewegungsarmut unserer Zivilisationsgesellschaft, weil wir
beim Wandern Körpersysteme wie Bewegungsapparat, Herz-Kreislauf-System, Stoffwechsel, Nervenssystem und
Immunsystem trainieren. Hinzu kommen die frische Luft, natürliches Licht und die Natur mit ihren
lebensfördernden Sinnesreizen. "Gehen ist die beste Medizin", befand bereits Hippokrates von Kos vor 2.500 Jahren.
Gesundheit ist ein begehrtes Gut. Alle möchten sich wohl fühlen in ihrer Haut und leistungsfähig im Leben stehen.
Für viele ist dies jedoch ein Eiertanz um die goldene Mitte. Wir kennen zwar die optimalen Bedingungen,
unter denen ein Mensch wächst und gedeiht. Wir kennen auch die wichtigsten Verhaltensregeln, die unsere
Gesundheit fördern. An der Umsetzung jedoch müssen die meisten von uns ein Leben lang arbeiten. Fastenwandern
kann uns dabei dienlich sein, uns auszurichten auf einen Weg der Mitte und diesen zu bahnen, damit er sich
leichter geht und ein Abweichen seltener wird.
Ergänzt man Fasten mit Wandern steigert dies die Effektivität des Fastens. Nochmals größer wird der Gewinn,
wenn man die spirituelle Dimension einbezieht, weil der ganze Mensch in seiner Einheit als
Körper-Geist-Seele-Wesen angesprochen wird. Durch die Abkehr vom konsumgeprägten und leistungsorientierten
Alltag öffnet sich ein Freiraum für geistige Einkehr und Rückbesinnung auf das Wesentliche. Unser Denken
und Fühlen, unsere geistige Haltung und unsere Einstellung zum Leben bestimmen unser Wohlsein viel
stärker als alle gesunden Essenspläne und Bewegungsprogramme. Beim Fastenwandern haben wir Zeit
unseren Lebensweg, unseren momentanen Standort und unsere Ziele auf Gültigkeit, Bedeutung und
Wertigkeit zu überprüfen. Bewegen wir uns noch in eine gute Richtung? Oder befinden wir uns
auf Abwegen, Umwegen oder Irrwegen? Ist es vielleicht an der Zeit neue Wege zu gehen? Oder
liegen nur Hindernisse im Weg, der Weg an sich ist aber der Richtige? Wie lassen sich die
Hindernisse wegräumen, umgehen, untergraben, oder kann ich sie einfach überklettern?
Das sind Fragen, die man mit auf den Weg nehmen kann. Vielleicht will man aber beim
Fastenwandern auch mal gar nicht denken, und stellt dann fest, wie schwer das ist.
Dieses Buch soll der Orientierung dienen und Wegweiser sein für eine Art des Fastenwanderns,
die nach individuellen Neigungen, Bedürfnissen und Interessen gestaltet werden kann. Für den
einen steht die Gesundheit im Vordergrund, für den anderen das Seelenheil. Manch einer will
einfach nur den Alltag hinter sich lassen und einen Urlaub ohne die gängigen Konsumgewohnheiten
machen. Die Motive und Absichten sind vielfältig. Der Leser möge sich herausgreifen, was ihn
anspricht und was ihm dient, und dabei immer bedenken: Die Landkarte ist nicht das Gelände
und der Wegweiser ist nicht der Weg.
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